Kapitel
12: In der Stadt der Langen
Drei Tage waren sie schon unterwegs und nichts Besonderes
geschah. Der Sturm hatte sich gelegt und der Weg war vom leichten Dauerregen durchweicht.
Jeden Abend gab ihr Wulfgast Unterricht, auch wenn er es Camy nicht sagen
würde: sie hatte schon ein gewisses Talent zum Kämpfen. Langsam schloß er die
Zwergin ins Herz und auch die Schmiedin gewöhnte sich an das knurrige Wesen des
Zwerges. Seine Schwägerin hatte wohl Recht; man gewann seine Freundschaft
wirklich nicht so leicht, aber er hatte sein Herz auf dem rechten Fleck. Sie
wollte unbedingt als gute Kämpferin zurück kehren und deshalb gab sie sich
besonders viel Mühe. Zum Glück hatte sie durch das Schmieden schon einige Kraft
in den Armen und durch das stramme Marschieren wurde die Zwergin immer
ausdauernder. Camy genoss ihre neugewonnene Freiheit und die wunden Füße würden
bald verheilen und vergessen.
Zur Mittagsstunde
erreichten sie eine kleine Stadt und Camy erledigte ein paar Schmiedearbeiten
für die Stadtbewohner, denn der ortsansässige Schmied hatte sich bei einer
Schlägerei den Arm verstaucht. So war eine Menge Arbeit liegen geblieben und
mit dem Verdienst konnte sich die beiden Reisenden ein Zimmer und ein warmes
Mahl leisten. Das Geld, dass Camy bei sich trug mußte ja schließlich noch eine
ganze Weile reichen und dem Zwerg wollte sie nichts schuldig bleiben, denn er
half ihr ohnehin schon viel zu sehr.
Wulfgast hatte sich,
während sich Camy in der Schmiede abrackerte, auf die Suche nach einem freien
Zimmer gemacht und sich ein wenig die Stadt angesehen. Es war wohl Markttag,
denn es herrschte rege Geschäftigkeit in den Straßen. Gaukler gaben ihre
Kunststücke und Zaubertricks zum Besten. Und natürlich durften auch die vielen
Bettler nicht fehlen, die verwahrlost und mit hungrigem Blick nach Almosen
bettelten.
Auf dem Marktplatz
stand eine improvisierte Bühne. Scheinbar sollte hier auch noch ein Schauspiel
aufgeführt werden. Neugierig blieb der Zwerg stehen und wartete mit den
Menschen auf den Beginn der Vorstellung. „Ich hab ja schon von den Aufführungen
der Menschen gehört,“ sagte er an den Mann gerichtet, der neben ihm stand,
„aber ich dachte eigentlich immer, daß mehr Requisiten auf der Bühne stehen
würden.“ Der Mann blickte irritiert auf Wulfgast hinab: „Hier findet doch keine
Aufführung statt, Herr Zwerg. Das heißt aber nicht, dass man nicht doch etwas
geboten bekommt. Da, seht ihr: der Scharfrichter wetzt schon die Henkersaxt.
Heute ist Hinrichtungstag.“
Wulfgast traute
seinen Ohren kaum. Verständnislos ließ er seinen Blick über die Menge
schweifen: Eltern mit ihren Kindern, die kandierte Früchte naschten. Männer und
Frauen die munter schwatzten und Bier oder Wein tranken. Menschen die fröhlich
lachten und ab und an erwartungsvoll zur Bühne blickten.
‚Die Langen machen aus einer Hinrichtung ein Volksfest.
Ganz so, als wäre überhaupt nichts dabei wenn Menschen sterben. Und ihrem
Nachwuchs bringen sie es auch gleich bei!‘ dachte er und als er gerade fragen wollte, was denn die
Verurteilten verbrochen hätten, wurden die Gefangenen auf die Bühne geführt.
Dort bekamen sie ihre Urteile verlesen: Viehdiebstahl, Betrug und Ehebruch.
„Das ist alles, was sie sich zu Schulden kommen ließen?! Also bei uns zu Hause
wird das allerdings anders geregelt!“ Angewidert wandte er sich ab: bei solch
einer Ungerechtigkeit wollte er nicht auch noch zusehen. Plötzlich begann die
Menschenmenge zu jubeln und zu johlen: die Hinrichtungen hatten begonnen.
Der Zwerg mußte
seine Ellbogen einsetzen um sich einen Weg durch die vielen Leute zu bahnen. Am
Rand des Geschehens erblickte er den Stand eines Bäckers und der verführerische
Geruch von frisch gebackenem Kuchen ließ ihm das Wasser im Mund zusammen laufen.
Er hörte den Bäcker wütend schreien und sah ihn auf ein zerlumptes Bündel
einschlagen. Wulfgast beschleunigte beunruhigt seinen Schritt und sah genauer
hin: ‚Ja war das denn die Möglichkeit?!
Spinnen denn hier alle Langen?!‘
Der Mann hatte einen etwa 10 Jahre alten
Jungen am Kragen gepackt und schlug auf ihn ein. Der wehrlose Knabe trug
dreckige, zerlumpte Kleidung und war keinesfalls so gut genährt wie er
eigentlich hätte sein sollen. Er wimmerte bei jedem Schlag und rief leise um
Hilfe. Die umstehenden Menschen blickten entweder beschämt zur Seite oder gaben
dem Händler mit bestätigenden Blicken stumm Recht. Doch niemand rührte auch nur
den kleinen Finger um dem Kerlchen zu helfen.
Endlich hatte
Wulfgast die Beiden erreicht. „Hey, du da!“ rief er empört. „Laß sofort den
Jungen los und such dir gefälligst einen Gegner in deiner Gewichtsklasse, du
feiger Fettsack!“ Der Händler dachte gar nicht daran, von dem Kind abzulassen.
Nun hatte der Krieger endgültig genug. Er packte seine Axt und verpaßte dem Bäcker
mit dem Eichenstil einen kräftigen Hieb auf die Hand und traf die empfindlichen
Handknöchel. Aufjaulend ließ der Mann den Knaben los.
Wulfgast half dem
weinenden Jungen auf und reichte ihm sein Taschentuch damit er es sich an die
blutende Nase drücken konnte. „So, jetzt zu dir. Was beim Barte des Großen
Schmieds ist denn in dich gefahren?! Schämst du dich denn nicht, einen
wehrlosen Knaben derart zu zu richten?!“ „Er hat mich bestohlen. Einen ganzen
Laib Brot hat er sich genommen ohne zu bezahlen. Eingesperrt gehört er und nie
wieder raus gelassen!“
Wulfgast zog den
vermeintlichen Dieb sanft am Arm. „Schau dir den Jungen doch nur mal an. Er ist
abgemagert, hungrig, zerlumpt und wohnt vermutlich auf der Straße. Gewiß, es
ist unrecht zu stehlen, aber es gibt doch bestimmt wesentlich angemessenere
Strafen, als ihn windelweich zu prügeln. Er hat Hunger und kämpft ums
Überleben, da hättest du ihm ruhig etwas von deinem trockenen Brot abgeben
können. Aber so wie du aussiehst weißt du bestimmt nicht, was es heißt Hunger
zu leiden, du schmieriger Fettsack!“
„Scher dich
gefälligst um deinen eigenen Mist, du bärtiger Dreckwühler und krabbel zurück
in das Loch aus dem du gekrochen bist!“ „Sag das noch mal, wenn du dich traust.
Aber du mußt dir schon sicher sein, daß du das Echo verträgst, du großmäuliger
Mistkerl. Denn wie man in den Stollen hineinruft schallt es heraus!“
Der Mann
ließ sich nicht zweimal bitten und war der Meinung, daß er das Echo sehr wohl
vertragen konnte. Ungelenk schlug er nach Wulfgast, doch dieser hatte mit dem
Angriff gerechnet und wich behände aus. Wieder schlug er mit dem Stil der Axt
nach dem Händler und traf dieses Mal die Rippen. Dann verpasste er ihm einen
harten Aufwärtshaken und hieb die Waffe erneut auf den Brustkorb. Und dieses
Mal hörte der Zwerg das leise Knacken der Rippen.
Die umstehenden
Menschen hatten sich wohl entschieden, nun nicht mehr wegzusehen und riefen
laut nach der Stadtwache. Und die war schneller da, als es Wulfgast lieb war.
Die Menschen erzählten den Soldaten, daß der Zwerg wie wild geworden grundlos
auf den Bäcker eingeschlagen hätte. Die Wachen glaubten ihnen und dem Krieger
hörten sie gar nicht zu: sie zeigten kein Interesse an seiner Version der
Vorkommnisse.
Ehe sie ihn packten und zum Stadtgefängnis bringen konnten, hatte
Wulfgast gerade Zeit genug um dem Jungen zu zu rufen: „Meine Reisebegleiterin
Camy arbeitet in der Schmiede. Du erkennst sie sofort: sie ist eine Zwergin.
Sag ihr bitte, Wulfgast steckt in Schwierigkeiten und erzähl ihr was passiert
ist!“ Der Junge nickte und verschwand in der Menge, ehe die Stadtwache auch ihn
festnehmen konnte.
Der Knabe hatte in
seinem bisherigen Leben noch nie solch eine große Unterstützung und Hilfe
erhalten und war dem Zwerg deshalb sehr dankbar. Und so machte er sich
tatsächlich auf die Suche nach der Zwergin. Doch er mußte sich beeilen, die
Stadtwache wollte ihn gewiß auch gefangen nehmen und wußte, daß er auf dem Weg
in die Schmiede war. Deshalb rannte er so schnell ihn seine Füße trugen um vor
ihnen dort zu sein.
Nach Atem ringend
stürzte er hinein und japste: „Camy?...Wulfgast….Schwierigkeiten…Verhaftet….
Stadtwache jagt mich….“ Doch die Schmiedin war nicht da. Sie hatte sich
entschlossen, eine kleine Pause einzulegen. Also versteckte sich der Junge und
wartete. Als nach einer gefühlten Ewigkeit weder Soldaten noch Zwergin
auftauchen, schlich er sich aus seinem Versteck und verschwand in der
Abenddämmerung.
Die Stadtwache
hatte Camy währenddessen gefunden, gerade als sie herzhaft in eine mit viel saurer
Sahne und Kräutern belegte Stulle beißen wollte….
Viel Spass beim Lesen, Eure Rina Smaragdauge